Amseln sind Nestflüchter, aber dass sie auch aus großer Höhe aus dem Nest springen war mir neu.
Update: Eine Amselbrut mit vielen Bildern und Videos ist hier dokumentiert.
Es war einmal ein verrücktes Amselpärchen was unserem Balkon im Spätsommer immer wieder einen Besuch abstattete. Alle hatten wir das Gefühl, daß das kein gewöhnlicher Besuch sein kann, nein, es sah eher wie eine Besichtigung aus.
Ohne weiteres waren wir uns einig: die haben irgend etwas vor mit unserem Balkon, vielleicht wollen die sogar hier brüten. Aber das sollte wohl erst im nächsten Jahr was werden.
Nun sind Amselbruten auf Balkonen in der Stadt nichts ungewöhnliches. Tiervater Alfred Edmund Brehm schrieb dazu in : "Viel eher und in weit stärkeren Maße als bei der Singdrossel hat sich die Spaltung in Wald- und Stadtvögel bei der Amsel vollzogen. Kein anderer einheimischer Vogel hat in gleich kurzer Zeit eine so gründliche Wandlung seiner Lebensgewohnheiten durchgemacht wie sie. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war die Amsel nach Gloger ganz allgemein in Deutschland 'ein sehr schüchterner, versteckt und einsam lebender Waldvogel, der sich nicht ohne Not ins Freie begibt, selbst auf der Wanderung sehr ungern in kleine und lichte Bestände einfällt und sich fast niemals frei oder auch nur auf einen höheren Baum setzt'. Seit der Jahrhundertwende aber drangen die Amseln in ständig wachsender Zahl in die Anlagen und Gärten der Ortschaften vor, und heute zählen sie, namentlich im westlichen und mittleren Deutschland, zu den gemeinsten und vertrautesten gefiederten Stadtbewohnern".
Gespannt beobachteten wir also im zeitigen Frühjahr das was sich da auf unserem Balkon entwickeln sollte. Immerhin wohnten wir damals in der fünften Etage und da Amseln uneigentliche Nestflüchter sind konnten wir uns nicht so richtig vorstellen wie die Sache nach dem Schlüpfen weitergehen sollte, denn da sollten diese Vögel noch ein Weilchen unten herumlaufen und von den Altvögeln gefüttert werden. Aber ich komme später noch einmal darauf zurück.
Und so hat sich alles zugetragen im Jahr 1995, in Erfurt Nord, Havannaer Straße 37...
Zum Beginn des Nestbaues ist es noch bitterkalt, denn ist der 20. März. Einen Tag später, am 21. März buhlen zwei Männchen um die Gunst des mit dem Nestbau beschäftigten Weibchens auf unserem Balkon in der fünften Etage.
Die Zeit, die das Amselweibchen für den Nestbau aufwendet, verlängert sich von den frühen Morgenstunden bis in die Mittagszeit hinein. So gesehen vom 20. Bis 24. März. Wohlgemerkt, beim Nestbau wird nur das Weibchen und das in den nächsten Tagen auch am Nachmittag beobachtet.
Störungen, wie das Öffnen der Balkontür, werden akzeptiert. Mein Erscheinen auf dem Balkon wirkt nur verzögernd, das heißt, die Amsel mit dem Nestbaumaterial landet zwar auf dem Balkongeländer, nimmt aber erst Besitz von der Nestbaustelle, wenn ich mich vom Balkon in die Stube zurückziehe. Dabei beobachten wir uns sowohl durch die geöffnete wie auch durch die geschlossene Balkontür. Ob wir uns vielleicht doch etwas näherkommen...?
Den Nestbau an sich vollzieht das Amselweibchen nur mit den Füßen, mit dem Schnabel wird zwar das Material herangeschafft aber die "Handwerksarbeiten" vollbringen die Füße. Interessanterweise wird auch Erde zum Nestbau von "irgendwoher" herangeschafft obwohl sich von diesem Baumaterial genügend am Bauort befindet, denn das Nest wird in einem Blumenkasten errichtet. Wahrscheinlich ist diese Erde ungeeignet oder nicht "lehmig" genug. Das Nest wird am 25. März mit Erdklümpchen und dem ersten Grünzeug weiter ausgebaut und die "Bauarbeiten" finden auch wieder am Nachmittag statt. An diesem Tage mache ich die ersten Fotos vom Nest. Das Amselmännchen ist bisher beim Nestbau noch nicht einmal gesehen worden.
Ab dem 26. wird es langsam etwas geheimnisvoll, die Amsel läßt sich nur noch selten sehen. Das Nest dürfte jedenfalls fertig sein. Beim Heranschaffen des Nistmaterials ist sie auch wieder etwas scheuer geworden. Das erste Ei finde ich am 28. März um 12 Uhr 35 und am 29. März um 13 Uhr das zweite Ei.
In der Nacht vom 28. zum 29. März schläft die Amsel das Erstemal im Nest auf dem ersten Ei. Zwischen dem Ablegen beider Eier sind diese stundenlang winterlicher Kälte ausgesetzt, bei Temperaturen um Null Grad und darunter.
Am 29. März abends sehe ich nach langer Zeit das Männchen wieder. Es sitzt auf dem Balkongeländer. Einmal, als die Amsel mal "gerade eben" weggeflogen ist, gehe ich auf den Balkon. Sofort kommt sie herangeflogen und nimmt Besitz von ihrem Nest. So demonstriert sie unmißverständlich, daß sie anwesend ist. Und nicht nur das: Sie kündigt sich auch lautstark mit ihrem "tack tack tack" an, wenn Sie im Anflug ist. Namentlich dann, wenn ich mich noch auf dem Balkon befinde. An dieser Stelle glaube ich, die Amsel auch mal daran erinnern zu müssen, wer hier eigentlich die Miete zahlt. Behutsam öffnen wir also öfters die Balkontür, wenn Madame auf ihrem Thron hockt, reden ihr gut zu, führen jedoch unsere Arme dicht am Körper, wenn wir den Balkon betreten.
Ein Ausstrecken der Hand nach der eierlegenden Amsel wäre ein fataler Vertrauensbruch unserer gerade beginnenden Freundschaft. Auch wenn wir die auf dem Nest sitzende Amsel gerne gestreichelt hätten, wir vermieden das tunlichst. Aber die Versuchung ist natürlich groß...
Am 31. März um 11 Uhr: das dritte Ei ist gelegt! Und das Vierte folgt am 1. April um 10 Uhr 45. Ob noch weitere Eier gelegt werden sollen?
Spätestens seit dem 4. April steht es nun fest: Keine weiteren Eier. Das Brutgeschäft hat begonnen! Das merken wir auch daran, daß sich die Amsel um ihr Nest sehr besorgt zeigt, gestern flog sie gar eine Attacke gegen meine Frau, welche gerade im Begriff war, Wäsche aufzuhängen.
Die Amsel ist jetzt so mißtrauisch geworden, daß sie sich kaum traut, das Nest zu verlassen um Nahrung aufzunehmen. Wenn sie für einen solchen Fall das Nest verläßt, dürfen wir nicht hinaus - sie, die Amsel, kommt sofort zurück und hungert lieber. Ja wie ist das eigentlich mit dem "Essen" ?
Eigentlich könnte ja das Männchen mal das Weibchen beim Brüten ablösen, damit es in Ruhe fressen kann. Aber nichts dergleichen tut sich. Das Männchen läßt seine Madame ganz schön im Stich, das ist nicht in Ordnung! Hier muß etwas geschehen oder sollten wir vielleicht doch...?
5. April, um 10 Uhr: Das Männchen wird am Gelege gesehen. Wahrscheinlich soll nun doch das Weibchen vom Brüten einmal abgelöst werden, na also. Ich mache ein Foto und schließe die Balkontür. Aber das war schon wieder zuviel für das scheue Männchen, weg war es.
Wenigstens was zu trinken könnten wir ja bereitstellen und siehe da, das Schälchen mit dem Trinkwasser wird von unserem Weibchen dankend angenommen. Das war am 7. April.
Unser Pflichtgefühl, der Amseldame bei der Nahrungsbeschaffung hilfreich sein zu müssen, läßt einfach nicht nach, und so stelle ich ein Schälchen mit Rührei bereit. Wenn Getränke angenommen werden, warum nicht auch Speisen? Und am 10. April geschieht das bisher Unglaubliche: Die Amsel nimmt den dargebotenen Imbiß gerne an und langt tüchtig zu. Am späten nachmittag erscheint das Männchen wieder um seine Frau vom Brüten abzulösen. Aber was passiert? Anstatt sich um das Gelege zu kümmern, macht sich das Männchen über das Rührei her, frißt sich voll und schwirrt ab. Hast Du da noch Töne... Auch am 11. April werden die bereitgestellten Schälchen mit Wasser und gehacktem gekochtem Rindfleisch von unserer Amsel gerne angenommen. Das Männchen allerdings kommt nur noch zum Fressen ohne sich um das Gelege zu kümmern.
Zwei Tage später ist es dann soweit: Die ersten zwei Küken sind geschlüpft.
Bereits in den letzten Tagen wurde beobachtet daß die Eier vom Weibchen öfter gedreht werden. Das Männchen erscheint nun auf dem Balkongeländer um die freudige Botschaft zu verkünden. Was für eine wunderschöne Melodie! Zur Mittagszeit schlüpft das dritte Küken. Ich stelle frisch bereitetes Rührei bereit und beide machen sich sogleich gierig darüber her. Möglicherweise ist das Männchen jetzt nicht mehr so scheu, wie am Anfang. Am 14. April vormittags wird das vierte Küken gesichtet. Es muß entweder am späten Abend gestern oder am frühen Morgen heute geschlüpft sein.
Das scheue Männchen beteiligt sich jedenfalls bei der Fütterung. Gekochtes und gehacktes Fleisch ohne Salz wird dankend angenommen. Das Weibchen frißt sogar vom hingehaltenen Löffel. Selbst gehackte rohe Champignons werden vom Löffel gefressen. An die Kleinen jedoch werden die Gaben nicht verfüttert. Die kriegen nur angeschleppte Regenwürmer. Möglicherweise wollen die Eltern ihre Kinder doch noch nicht allzu früh mit den Abfällen unserer Zivilisation verderben. Eine halb aufgeschnittene Kiwi wird vom Männchen gekostet und dann - komplett weggeschleppt. Immerhin, das Männchen wird nun doch so langsam etwas zutraulicher und zeigt sich dankbar, indem es immer öfter vom Balkongeländer herab eine Melodie trällert.
Amseln fressen Pudding! So gesehen am 16. April als das Rührei alle war. Das Männchen beteiligt sich immer reger an der Fütterung der vier Jungvögel. Die wiederum sind jetzt allesamt schwarz bedaunt und somit nicht mehr so häßlich, wie vor ein paar Tagen.
Sauberkeit ist oberstes Gebot bei Amseln. Wenn mancher wüßte wie ordentlich die Amselmutter ihr Nest pflegt, er würde diesen Vögeln gewiß nicht böse sein, wenn die mal auf seinem Balkon brüten sollten. Nach dem Schlüpfen der Küken wurde nicht eine Eischale in der Umgebung des Nestes bzw. auf dem Balkon gefunden. Nach erfolgreichen Fütterungsversuchen mit Rührei und gekochtem gehacktem ungesalzenem Fleisch kriegen unsere Amseln heute einen Rest von Schokoladenpudding gereicht. Unbegreiflich, wie sich das Weibchen darüber hermacht. Bei all den Fütterungen bleibt festzustellen, daß von den dargebotenen Speisen nichts an die Jungtiere verfüttert wird. Diese kriegen Regenwürmer. Nur die Alttiere gehen an das "Spendierte".
19. April: das Männchen beteiligt sich rege an der Fütterung und die erste kleine Amsel öffnet die Augen. Sind die jetzt süß... . Faszinierend ist es, wie schnell die kleinen Amseln wachsen. Und noch ein Wort zur Sauberkeit: Deren Exkremente werden von beiden Altvögeln in einer Art Kokon entsorgt.
An diesem einen Abend, die Küken waren allein im Nest, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen. Ich schnappte mir eines von den süßen kleinen Amselchen und brachte es in die Küche zu meiner Frau und meinem Sohn. Uns schien, als hätte Felix (natürlich bekam er gleich einen Namen) überhaupt keine Angst. Um ihn jedoch nicht allzusehr zu strapazieren setzte ich Felix nach wenigen Minuten wieder behutsam in das Nest auf dem Balkon. Die alte Amsel hat von alldem nichts bemerkt.
Bedingt durch den Regen der letzten Tage ergibt sich ein Überangebot an Regenwürmern. Aus diesem Grunde unterlassen wir auch das weitere Bereitstellen von Zusatznahrung. Lediglich Trinkwasser stellen wir noch bereit.
25. April: Eigentlich, so dachten wir, hüpfen kleine Amseln bereits aus dem Nest, wenn sie noch nicht flügge sind. Deswegen haben wir auch unseren Balkon etwas umgeräumt. Um so erschrockener war ich heute nachmittag, als das kräftigste der Kleinen (es war bestimmt der Felix) aus der Nische aufsprang und über das Balkongeländer in die Tiefe hüpfte. Es landete nach einer Art Trudelflug auf einem der unten parkenden Autos.
Tu Deine Pflicht, dachte ich, rannte hinunter, schnappte mir den Kleinen und brachte ihn zurück zu Mutteramsel. Diese guckte mich etwas unverständlich an. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß die kleine Amsel den Balkon sofort wieder verlassen würde, sobald ich sie in das Nest zurückgebe und - genauso ergab es sich. Ein Foto erhaschte ich noch von dem Ausreiser, dann entschwebte er meinem Blickfeld.
Flügge am 26. April: Tagsüber beobachtete ich, wie die drei verbliebenen kleinen Amseln außerhalb des Nestes auf dem Sims balancierten. Die Altamsel erschien hin und wieder mit einem Regenwurm, zögerte jedoch, die Jungen zu füttern. Wir kombinierten, daß die Amselmutter ihre Kleinen damit nur locken wollte. Als wir abends in der Dämmerung wieder in das Nest schauten, war es leer.
Im ersten Moment wußten wir nicht so recht, was los ist, eine Elster etwa?
Aber dann sahen wir das Nesthäkchen auf einer der Konsolen sitzen. Damit war für und klar, daß die Tiere jetzt alle flügge und - bis auf das Vierte ausgeflogen sind. Die Amselmutter mit einem Wurm im Schnabel und auch das Männchen erschienen nun auf dem Balkongeländer und lockten. Ehe wir uns versahen, sprang auch das letzte Küken über die Balkonbrüstung.
Einigemale noch kehrten die Altvögel im Abstand von wenigen Minuten zum Balkon zurück. Wollten sie Abschied nehmen von unserer Gastfreundschaft, sich bedanken, oder einfach nur gucken ob jetzt alle unten sind?
Noch einige Minuten hören wir die Amseln tackern. Dann wird es dunkel und die Geschichte ist aus.
PS: Was wohl aus Felix und den Anderen geworden ist?
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